Wie wir denken: System 1 und System 2

Wie wir denken: System 1 und System 2

Um zu verstehen, warum im Rahmen einer Analyse der Rückgriff auf Strukturierte Analysetechniken sinnvoll ist, muss zunächst die Frage beantwortet werden, wie der Mensch denkt beziehungsweise wie er urteilt und Entscheidungen trifft. Hierzu werde ich im Folgenden vor allem auf die Forschungen von Dr. Daniel Kahneman[1] und auf Richards Heuer Jr.[2] zurückgreifen.

S1S2

Kahneman unterscheidet zwei unterschiedliche Arten des Denkens und ordnet beiden Denkarten Systeme zu. Diese Systeme nennt Kahneman System 1 und System 2:

„System 1 arbeitet automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung.“*

*Kahnemann, Daniel: Schnelles Denken, Langsames Denken, Penguin Verlag, 13. Auflage, München: 2021, S. 33

„System 2 lenkt die Aufmerksamkeit auf die anstrengenden mentalen Aktivitäten, die auch sie angewiesen sind, darunter auch komplexe Berechnungen. Die Operationen von System 2 gehen oftmals mit dem subjektiven Erleben von Handlungsmacht, Entscheidungsfreiheit und Konzentration einher.“*

*Kahnemann, Daniel: Schnelles Denken, Langsames Denken, Penguin Verlag, 13. Auflage, München: 2021, S. 33

Kahneman unterscheidet zwei unterschiedliche Arten des Denkens und ordnet beiden Denkarten Systeme zu. Diese Systeme nennt Kahneman System 1 und System 2:

System 1 arbeitet automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung.*

Kahnemann, Daniel:
Schnelles Denken, Langsames Denken, Penguin Verlag, 13. Auflage, München: 2012, S. 33

System 2 lenkt die Aufmerksamkeit auf die anstrengenden mentalen Aktivitäten, die auch sie angewiesen sind, darunter auch komplexe Berechnungen. Die Operationen von System 2 gehen oftmals mit dem subjektiven Erleben von Handlungsmacht, Entscheidungsfreiheit und Konzentration einher.*

Kahnemann, Daniel:
Schnelles Denken, Langsames Denken, Penguin Verlag, 13. Auflage, München: 2012, S. 33

Alles, was uns innerlich unbewusst wiederfährt, ist durch System 1 generiert worden. Unsere Eindrücke, Gefühle, Neigungen; unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit.[3] Zentral ist hierbei das Wort „wiederfährt“.

Denn das, was System 1 erzeugt, geschieht ohne willentliche Steuerung und wie bereits beschrieben automatisch und weitestgehend mühelos. Die Erfahrung, die wir machen, wen System 1 arbeitet, ist also eine passive Erfahrung.[4]  Diese passive Erfahrung unterliegt nicht unserer willentlichen Steuerung. Hierzu merkt Richards Heuer[5] an:

A basic finding of cognitive psychology is that people have no consscious experience of most of what happens in the human mind. Many functions associated with perception, memory, and information processing are conducted prior to and independently of any conscious direction. What appears spontaneously in consciousness is the result of thinking, not the process of thinking.

Heuer Jr., Richards (2):
Limits of Intelligence Analysis, Orbis, quarterly journal of the Foreign Policy Research Institute, Winter 2005, S. 4

Plakative Beispiele die Daniel Kahneman exemplarisch für System-1-Funktionen nennt, sind das Berechnen von 2+2, das Lesen eines Wortes in der eigenen Muttersprache auf einem Bildschirm oder das Fahren auf einer leeren Straße.

System 1 ruft aber auch Fähigkeiten ab, die wir im Laufe der Zeit durch Erlernen und Übung aufgebaut haben:

2+2

Das Wissen ist im Gedächtnis gespeichert und wird ohne Intention oder Anstrengung abgerufen.*

Kahnemann, Daniel:
Schnelles Denken, Langsames Denken, Penguin Verlag, 13. Auflage, München: 2012, S. 34

Damit Wissen schnell abgerufen werden kann, muss es im Langzeitgedächtnis abgespeichert worden, und leicht zugänglich sein. Da die im Langzeitgedächtnis abgelegten Informationen das vordergründige Bewusstsein verlassen haben, muss dieses Wissen indirekt abgerufen werden. Um zu verstehen, wie das funktioniert, muss man sich die Funktionsweise des Gehirns bewusst machen. Richards Heuer hat in diesem Kontext eine, wie er selbst schreibt, simplifizierte Darstellung verfasst:  Im menschlichen Gehirn existieren Millionen von Neuronen, untereinander verbunden durch Synapsen. Die Neuronen, vergleichbar mit Speicherchips, dienen der Ablage von Informationen. Synapsen (bzw. Axone und Dendriten) verbinden Neuronen miteinander; über sie werden Signale zwischen Neuronen übermittelt, über sie erfolgt der Zugang zu Informationen.

Wenn wir etwas lernen – oder allgemeiner – wahrnehmen, dann ordnen wir dadurch die Verbindungen zwischen Neuronen neu. Dies geschieht indem sich zwischen den Neuronen Synapsen bilden oder vorhandene Synapsen verstärkt werden. Wir verändern also physisch die Struktur unseres Gehirns (Stichwort: Neuronale Plastizität[6]).

Je häufiger dieselben Neuronen über dieselben Synapsen angesteuert werden, desto stärker wird die Verbindung zwischen den Neuronen und desto schneller können wir auf die in den Neuronen abgelegten Informationen zugreifen. Bildlich schön gelöst kann in diesem Zusammenhang bei einem ersten Lernen von einem Trampelpfad zwischen Neuronen gesprochen werden. Je häufiger dieser Trampelpfad genutzt wird, desto breiter wird er. Nutzen wir eine bestimmte neuronale Verbindung sehr häufig, können aus Trampelpfaden Autobahnen werden.[7]

Denken wir also über eine Sache, ein Ereignis oder einen Prozess auf eine bestimmte Art und Weise nach, etablieren wir damit auch physisch einen speziell geformten Weg innerhalb des Gedächtnisses. Es ist dieser Weg, den wir dann auch in ähnlich gelagerten Folgesituationen gehen werden. In diesem Kontext spricht Kahneman davon, dass Intuition nichts anderes als eine Form des Wiedererkennens ist: „Intuition is Recognition.“[8] Wir prägen also unbewusst die Art, wie wir Informationen ablegen und wichtiger: abrufen können! Denn wenn wir einen Gedankengang, eine bestimmte Lösungsstrategie oder Ähnliches erst einmal etabliert haben, ist es nur schwer möglich, die auf diesem Gedankengang abgelegten Informationen auf anderen Wegen zugänglich zu machen. Wir denken also über ähnlich gelagerte Sachverhalte stets auf ähnliche Art und Weise nach.

Kognitive Strukturen, die unser Leben prägen: Schemata

Wenn Neuronen besonders stark miteinander verbunden sind und damit auch die abgelegten Informationen; und zwar auf eine Art und Weise, dass dieses Set an Neuronen (Informationen) quasi als Einheit abgerufen und genutzt werden kann, dann spricht Heuer von einem Schema.[9] Jeder Mensch hat unzählige Schemata in seinem Langzeitgedächtnis verfügbar.

Das können banale Schemata sein, beispielsweise eines für das Frühstück, in dem alle Assoziationen abgelegt sind, die etwas mit dem Thema Frühstück zu tun haben (welche Speisen gehören dazu, um welche Uhrzeit wird das Frühstück eingenommen, an welchem Ort isst man normalerweise Frühstück und so weiter). Daneben gibt es natürlich auch komplexere Schemata. Beispielsweise eines für die Funktionsmerkmale unterschiedlicher politischer Systeme, von der Demokratie, über eine Autokratie bis hin zur Diktatur. Von kapitalistischen Systemen hin zu kommunistischen oder sozialistischen. Auch für das Schreiben eines Intelligence-Reports oder für erfolgreiche Einschätzungen (Intelligence estimates) müssten Schemata existieren.[10]

Jeder Punkt im Gedächtnis wird mit vielen überlappenden Schemata verbunden sein. Dieses System ist hoch komplex und ist noch nicht vollständig erschlossen.

Heuer, Jr., Richards J.:
Psychology of Intelligence Analysis, Center for the Study of Intelligence, 1999, S. 22, eigene Übersetzung

In den Schemata sind neben Sachinformationen auch Emotionen abgelegt, die mit dem behandelten Phänomenbereich zu tun haben. Der schnelle Rückgriff auf Informationen durch System 1 erfolgt also durch den Rückgriff auf unterschiedliche, teils überlappende Schemata, die unser Wissen in unserem Langzeitgedächtnis organisieren. Das auf diese Weise geschaffene und von System 1 aufrechterhaltene und aktualisierte Modell unserer Wirklichkeit beschreibt Kahneman folgendermaßen:

Die hauptsächliche Funktion von System 1 besteht darin, ein Modell unserer persönlichen Welt, in dem das repräsentiert ist, was normal in unserer Welt ist, aufrechtzuerhalten und zu aktualisieren. Das Modell ist aufgebaut auf Assoziationen, die Vorstellungen mit Situationen, Ereignissen, Handlungen und Ergebnissen verknüpfen, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit gemeinsam auftreten, entweder gleichzeitig oder innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne. In dem Maße wie sich diese Verknüpfungen bilden und verstärken, entsteht ein Netzwerk assoziativer Vorstellungen, das die Struktur von Ereignissen in unserem Leben repräsentiert, und es bestimmt unserer Interpretation der Gegenwart sowie unsere Zukunftswerartungen.*

Kahnemann, Daniel:
Schnelles Denken, Langsames Denken, Penguin Verlag, 13. Auflage, München: 2012, S. 96

System 1 liefert also durchgängig eine Interpretation der Wirklichkeit und durch System 1 nehmen wir unsere Umwelt wahr.

Ein weiteres Charakteristikum von System 1 ist, dass es uns in die Lage versetzt, auf Grundlage unvollständiger und widersprüchlicher Informationen schnell und mühelos zu einem Urteil zu gelangen. Diese Fähigkeit hat sich im Laufe der Evolution herausgebildet und hat insbesondere zu Beginn der menschlichen Entwicklung zum Überleben unserer Spezies beigetragen.[11]

An dieser Stelle gern als Beispiel genutzt ist der Säbelzahntiger, der vor zwei Höhlenmenschen auftaucht. Während Jener, der in Millisekunden reagiert und flieht wahrscheinlich der ist, der überlebt, wird Jener, der sich erstmal in Ruhe Zeit zu urteilen nimmt, was das Auftauchen dieses faszinierenden Lebewesens in der aktuellen Situation bedeutet, sich vermutlich nicht mehr allzu lange seines Lebens erfreuen können.

Damit ist System 1 sozusagen das Vermächtnis unserer evolutionären Vergangenheit und hat über Jahrtausende das Überleben der Menschheit gesichert.

Demgegenüber nennt Kahneman das langsame Denken System 2. Wir können System 2 beobachten, wenn wir nicht automatisch eine Antwort auf ein Problem haben und uns dieses Umstands bewusst sind. Wenn wir im wahrsten Sinne des Wortes Nachdenken müssen.

Das kann eine komplexe Berechnung sein oder ein komplexes Analyseproblem. Damit System 2 aktiviert wird, müssen wir uns willentlich dazu entscheiden. In Abgrenzung zu System-1-Denken, dass als passive Erfahrung wahrgenommen wird, erzeugt System-2-Denken daher auch den Eindruck eines aktiven Vorgangs.[12]

Der willentliche Rückgriff auf System-2-Denken kann notwendig werden, wenn System 1 keine intuitive Lösung für ein Problem bereithält. Beispielsweise wenn wir aufgefordert werden, 17×24 im Kopf zu berechnen.[13]

Wird es aktiviert, wenden wir mentale Ressourcen auf, um eine schwierige Aufgabe zu lösen. Das ist anstrengend und deshalb kann diese Aktivität auch nur eine begrenzte Zeit ausgeführt werden. Und obwohl dieses bewusste Denken, das, was Kahneman unter System 2 versteht, von den meisten Menschen als ihr bewusstes Ich wahrgenommen wird, ist es tatsächlich nur einen Bruchteil des Tages aktiv.[14]

Bis hierher mag die Frage gerechtfertigt sein, inwieweit aus der Existenz und dem Zusammenspiel von System 1 und System 2 Probleme erwachsen und was das mit Analyse zu tun hat. Auf diese Aspekte möchte ich im fortfolgenden eingehen. Denn System 1 ist nicht nur die Quelle der meisten Dinge, die wir richtig machen, es ist oftmals auch die Quelle systematischer Fehler in unseren Intuitionen[15] und System 2 ist nicht immer zur Stelle, um Fehler von System 1 zu bemerken und zu korrigieren. Hierzu merkt Kahneman an:

Es wäre unerträglich mühsam, ständig sein eigenes Denken zu hinterfragen, und System 2 ist viel zu langsam und ineffizient, um bei Routine-Entscheidungen als Ersatz für System 1 zu fungieren.*

Kahnemann, Daniel:
Schnelles Denken, Langsames Denken, Penguin Verlag, 13. Auflage, München: 2012, S. 42

Intuition als Risikoquelle: Systematische Fehler

Im Folgenden werde ich einige der systematischen Fehler beschreiben, für die System 1 verantwortlich ist. Ich werde aufzeigen, was diese Fehler für den Bereich der Analyse bedeuten und welche Möglichkeiten es gibt, sich vor ihnen zu schützen.

Die Arbeit des Analysten besteht größtenteils darin, auf Grundlage unvollständiger und widersprüchlicher Informationen Urteile zu bilden und Schlüsse zu ziehen. System 1 beherrscht diese Fähigkeit. Es neigt aber dazu, voreilige Schlüsse zu ziehen. Hierzu schreibt Kahneman:

Voreilige Schlussfolgerungen sind dann effizient, wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zutreffen, wenn die Kosten eines gelegentlichen Fehler akzeptabel sind und sie viel Zeit und Mühe sparen. Dagegen sind voreilige Schlüsse riskant, wenn die Situation unbekannt ist, viel auf dem Spiel steht und man keine Zeit hat, weitere Informationen zu sammeln. Unter solchen Umständen sind intuitive Fehler wahrscheinlich, die allerdings durch eine gezielte Intervention von System 2 verhindert werden können.*

Kahnemann, Daniel:
Schnelles Denken, Langsames Denken, Penguin Verlag, 13. Auflage, München: 2012, S. 105

Kahneman arbeitet mit diversen Beispielen, um unterschiedliche systematische Fehler zu illustrieren. Das folgende Beispiel ist voreiligen Schlussfolgerungen gewidmet:

121314ABC

Die wichtigste Eigenschaft der vorstehenden Grafik ist, dass ihre Aussage mehrdeutig ist. In beiden Reihen, ist das mittlere Symbol gleich. Allerdings wird es im Kontext der ersten Reihe als 13 identifiziert und im Kontext der zweiten Reihe als B.

Interessant ist nun, dass den wenigsten Lesern diese Mehrdeutigkeit des Symbols überhaupt bewusstwird. Kahneman führt hierzu aus, dass Kontextualisierung eine System-1-Funktion ist. System 1 hat eine klare Entscheidung getroffen, was das mittlere Symbol im jeweiligen Kontext bedeutet und von dieser Wahl, von den verworfenen Alternativen und von der inhärenten Mehrdeutigkeit bekommt der Leser nichts mit:[16]

System 1 protokolliert nicht die Alternativen, die es verwirft, oder auch nur die Tatsache, dass es Alternativen gab. Bewusste Zweifel gehören nicht zum Repertoire von System 1; dazu wäre es erforderlich, gleichzeitig an miteinander unvereinbare Interpretationen zu denken, wozu es mentaler Anstrengung bedürfte. Ungewissheit und Zweifel sind die Domäne von System 2.*

Kahnemann, Daniel:
Schnelles Denken, Langsames Denken, Penguin Verlag, 13. Auflage, München: 2012, S. 106

Hinzu kommt, dass bewusste Zweifel und Mehrdeutigkeiten einer kohärenten Geschichte abträglich wären. Die große Stärke von System 1 ist jedoch das Erzeugen kohärenter Geschichten.

Diese sind Ausfluss aktivierter Vorstellungen in unserem assoziativen Gedächtnis. Und nur mit diesen aktivierten Vorstellungen arbeitet System 1 überhaupt. Es merkt nicht, dass Informationen fehlen könnten, sondern arbeitet ausschließlich mit dem, was im Hier und Jetzt verfügbar ist. Kahneman prägte für diesen Umstand eine gesonderte Regel, die WYSIATI-Regel (What you see is all there is). Interessant ist, dass je weniger Informationen verfügbar sind, desto leichter es System 1 fällt, eine „gute“ weil kohärente Geschichte zu erzeugen. Mehr Informationen und vor allem widersprüchliche Informationen senken die Kohärenz der Geschichte. Kognitive Leichtigkeit stellt sich also vor allem dann ein, wenn nur kohärente Vorstellungen in unserem assoziativen Gedächtnis aktiviert werden und wir (beziehungsweise System 2) zulassen, dass System 1 uns aus diesen Vorstellungen eine gute Geschichte erzeugt.[17]

Relevant für den Analysten ist nun, dass es einem ausgewogenen Analyseergebnis nicht zuträglich sein kann, auf dieser Grundlage Urteile zu fällen und Schlüsse abzuleiten. Arbeitet der Analyst aber in einem Zustand kognitiver Leichtigkeit – sprich: System 1 sitzt am Steuer – dann ist das Risiko fehlerhafter Analysen groß.

Voreilige Schlussfolgerungen und die WYSIATI-Regel sind grundsätzliche Faktoren, die den Prozess einer Analyse und ihr Ergebnis beeinflussen können. Im weiteren Verlauf werde ich auf unterschiedliche kognitive Verzerrungen – Biases und Heuristiken – eingehen, und diese im Kontext der Analyse verorten. Es sind vor allem diese kognitiven Verzerrungen, die gute Analysen erschweren und die deshalb in ihren Auswirkungen begrenzt werden müssen.

Wie wir uns irren

Biases und Heuristiken