Der Fall von Kabul – Vorausschau und Rückschau: Warum es sich lohnt, den Unterschied zu kennen

Kabul

Bei der Vorausschau versuchen Analystinnen und Analysten auf Grundlage unvollständiger und widersprüchlicher Informationen eine Aussage über mögliche künftige Entwicklungen zu formulieren (Intelligence Estimates). Beispielsweise auf die Frage: Wann können die Taliban Kabul nehmen? Hierbei wählen Analystinnen und Analysten unterschiedliche Informationen aus einem Meer von Informationen aus und nutzen diese, um entsprechende Aussagen zu formulieren. Die Mitarbeiter/Innen beim BND, AA und in anderen Institutionen haben also versucht, auf Grundlagen unvollständiger und mit Sicherheit widersprüchlicher Informationen und Annahmen zu einer Aussage darüber zu gelangen, wie sich die Lage in Afghanistan entwickeln könnte. Vorausschau.

Ganz anders sieht es in der Rückschau aus. Wenn ein bestimmtes Ereignis eingetreten ist, also beispielsweise der Fall von Kabul, dann ändert das etwas daran, wie wir (Analyst/Innen, Journalist/Innen, Politiker/Innen) auf dieses Ereignis blicken. Wie ist das zu verstehen? Unser Gehirn besteht aus Millionen Neuronen und Verbindungen zwischen ihnen. Lernen wir etwas, verändert das welche Neuronen wie miteinander verbunden sind. Unser Gehirn verändert sich also physisch (Stichwort: Neuronale Plastizität). Dieser Vorgang trägt sich unbewusst zu und verändert fortan irreversibel auch die Art und Weise, wie wir insgesamt über dieses Ereignis nachdenken. Informationen, die mit dem Ereignis zu tun haben und die vorher vielleicht genauso wichtig oder unwichtiger erschienen als andere, erhalten plötzlich eine enorm hohe Bedeutung, weil sie – in der Rückschau – deutlich auf das inzwischen eingetretene Ereignis hingewiesen haben. Aber zuvor waren diese Informationen nur Teil des Grundrauschens im Informationsraum. Eine Information in einem Meer anderer Informationen. Das ist der wesentliche Unterschied zwischen Vorausschau und Rückschau. Relevant ist nun, dass es uns nicht möglich ist, uns nachdem wir um ein eingetretenes Ereignis wissen, in denselben kognitiven Zustand zu versetzen, wie zuvor. Die physische Struktur unseres Gehirns hat sich bereits verändert und diese Veränderung lässt sich nicht zurückstellen. Deshalb sehen vermeintliche „Intelligence-Failures“ wie der Fall von Kabul in der Rückschau für den Beobachter regelmäßig so aus, als wären sie leichter vorhersagbar gewesen, als es in der Vorausschau vielleicht tatsächlich der Fall gewesen ist.[1]

Siehe hierzu auch die Definition des Rückschaufehlers / Hindsight Bias:

“Der Rückschaufehler besteht in der Einschätzung und Behauptung, Schlüssel- Informationen, -Geschehnisse, -Treiber, -Akteure oder -Faktoren, die eine zukünftige Entwicklung hervorgerufen oder beeinflusst haben, hätten einfach identifiziert und berücksichtigt werden können.”[2]

Der Appell scheint gerechtfertigt, dass sich Kommentatoren und Politiker/Innen in der Bewertung der Vorhersagbarkeit dieses Ereignisses etwas in Zurückhaltung üben sollten. 

[1] Vgl. hierzu auch das Grundlagenwerk: Heuer, Richards: Psychology of Intelligence Analysis, Center for the Study of Intelligence, 1999, S. 161 ff.

[2] Pherson, Randolph H.: Handbook of Analytic Tools & Techniques, 5th ed., Pherson Associates, LLC: 2018, S. 8, eigene Übersetzung.

Bildquelle: Charly_7777, Pixabay.com

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