Der Abduktionsschluss
Als Abduktion wird ein erklärender oder hypothetischer Schluss bezeichnet. Der Ausgangspunkt eines abduktiven Schlusses ist eine oder sind mehrere Beobachtungen (Ereignis/Ereignisse) Diese können hierbei – und so wurde es ursprünglich von dem Logiker Charles Sanders Peirce im 19. Jahrhundert erdacht – einen überraschenden Charakter haben. In der konkreten Lebenswirklichkeit eines Analysten können dies beispielsweise Anomalien in der Datenlage beziehungsweise dem Meldungseingang sein. Diese neuen Informationen können sich also beispielsweise auf Widersprüchlichkeiten gegenüber etablierten oder offiziellen Bewertungen der Wirklichkeit (bzw. des Weltbildes) des Analysten oder seiner Institution beziehen. Sie könnten aber auch auf ein komplett neues Phänomen abzielen, das bisher nicht beobachtet wurde (und das damit ebenfalls nicht dem Weltbild des Analysten bzw. seiner Institution entspricht). Damit stellt ein potenzieller Auslöser für einen Abduktionsschluss gegebenenfalls ein (Bauch-)Gefühl dar, das wahrscheinlich jeder Mensch schon einmal empfunden hat. Das Gefühl, dass eine Beobachtung (im weitesten Sinne) erklärungsbedürftig ist. Dieses Gefühl kann im Alltag beispielsweise entstehen, wenn man in seiner Wohnung ein unbekanntes Geräusch – vielleicht ein Klopfen oder Hämmern – wahrnimmt, das erstmalig auftritt. Da jeder Mensch solche erklärungsbedürftigen Situationen kennt, kennt eigentlich auch jeder Mensch den nächsten Schritt der Abduktion: das hypothetische Schließen auf eine (mögliche) Erklärung für das unbekannte Phänomen. Um bei diesem Beispiel zu bleiben, könnte eine spontane Idee sein, dass für das unbekannte Geräusch in der Wohnung, Luft in der Heizung ursächlich sein könnte. Die hier zu Grunde liegende Logik beschreibt Peirce folgendermaßen:
„Die überraschende Tatsache C wird beobachtet; aber wenn A wahr wäre, würde C eine Selbstverständlichkeit sein; folglich besteht Grund zu vermuten, dass A wahr ist.“[1]
Bezogen auf das hier verwendete Beispiel ließen sich Peirce Worte folgendermaßen umformulieren:
In diesem Beispiel wäre es dann möglich, den hypothetischen Schluss durch eine Inspektion der Heizung (Fall) bzw. einem Entlüften der Heizungsanlage zu überprüfen. Die Politikwissenschaftlerin Gabriele Sturm schreibt bezüglich eines so gelagerten Vorgehens:
„Wenn die Verankerung des Abduktionsschlusses ursprünglich im empirischen Material (dem Ergebnis) liegt und dieses sodann Einfälle für Ursachen hervorruft oder wenn aus der Erfahrung der Forschenden theoretische Begründungen auch unerwarteter Art er-innert werden (also nach einer möglichen Regel gesucht wird), ergibt sich eine wahrscheinliche Vor-Aussage über den Verlauf zukünftiger Erfahrungen auf dem Weg zum Strukturerkennen (Fall).“[2]
Anders ausgedrückt, mit Hilfe der Abduktion werden mögliche (neue) Erklärungen für Beobachtungen (un-bekanntes Geräusch / Ergebnis) gefunden (hier die Luft in der Heizungsanlage / hypothetischer bzw. erklärender Schluss bzw. Regel). Aus dieser Kombination lassen sich deduktiv mögliche Vorhersagen ableiten, die man zu entdecken vermuten würde, wäre die hypothetische Regel wahr:
Regel: Wenn in Heizungsanlagen Luft ist, erzeugen diese Geräusche.
Ergebnis: Diese Heizung erzeugt Geräusche.
Fall: In dieser Heizung ist Luft.
Dieser Schluss lässt sich nun überprüfen. Das Überprüfen (Kombination Fall/ Ergebnis) kann induktiv erfolgen:
Fall: Ich entlüfte die Heizungsanlage.
Ergebnis: Die Heizungsanlage erzeugt keine Geräusche mehr
Regel: Die Luft in der Heizungsanlage war für die Geräusche verantwortlich.
Wieder bezogen auf die Abduktion lässt sich also festhalten, dass der abduktive Schluss eine Erklärung der verfügbaren Informationen ist.[3] [4]
Bei der vorangegangenen Darstellung der Schlussverfahren wurde erläutert, dass durch Induktion geschlossen werden kann, dass etwas wahrscheinlich wahr ist (wobei der Grad der Wahrscheinlichkeit variiert) und dass durch Deduktion geschlossen werden kann, dass etwas zwingend wahr ist. Bei der Abduktion ging es nun darum, dass etwas glaubhaft oder plausibel wahr ist.[5] Es geht darum, (noch unbekannte) Erklärungen bzw. Regeln für Phänomene zu finden. Zum Abschluss soll noch einmal beton werden, dass der Analyst sich darüber im Klaren sein sollte, dass unterschiedliche Schlussverfahren unter-schiedliche Auswirkungen (Chancen und Risiken) für die Beurteilung der Belastbarkeit der Schlüsse und damit die Belastbarkeit der auf den Schlüssen basierenden Analyse impliziert. Um das Beurteilen zu können, muss der Analyst natürlich akzeptieren, dass er (fast) immer auf Schlussverfahren zurückgreift, wenn er mit Belegen arbeitet und er sollte ein Gefühl dafür entwickeln, wann welches Schlussverfahren zum Einsatz kommt.
Aus dem hier diskutierten Inhalt leitet sich die folgende Definition von rationalem Argumentieren ab:
„Rationale Argumentation ist die Art Argumentation, die auf Grundlage schriftlich festgehaltener und hinsichtlich ihrer Qualität bewerteter Belege unter Nutzung logischer Schlussverfahren erfolgt. Das Ziel rationaler Argumentation ist ein logischer Schluss, dessen Belastbarkeit der Analyst kennt.“
In diesem Beitrag wurden fünf Kerngedanken entwickelt:
- Die Unterscheidung zwischen Information und Beleg ist ein Hilfsmittel für die Bestimmung von relevanten Informationen. Damit dieses Hilfsmittel genutzt werden kann, müssen genutzte Begriffe eindeutig und transparent definiert werden. Die Bestimmung der Schnittmenge zwischen Beleg und der Fragestellung / der Hypothese des Analysten dienen als Basis für das bewusste Anwenden von logischen Schlussverfahren.
- Die Anfertigung einer Beleg-Liste erhöht die Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Analysen und innerhalb eines Teams von Analysten. Dies erreicht die Beleg-Liste durch den Zwang einheitlicher und expliziter Definitionen. Die Beurteilung der Belastbarkeit von Belegen (Quelle/Information) hilft zudem dabei, die Belastbarkeit der auf diesen Belegen basierenden Schlüssen zu bewerten.
- Analysten nutzen bei ihrer Arbeit fast immer logische Schlussverfahren. Jedoch werden diese oftmals unbewusst eingesetzt. Der Analyst kann allerdings Vorteile daraus ziehen, wenn er sich diese (Un-)Bekannten zu Freunden macht.
- Die unterschiedlichen Schluss-verfahren bewirken unterschiedliche Belastbarkeiten für die durch sie erzielten Schlüsse. Analysten sollten sich dieser Belastbarkeiten bewusst sein, um einschätzen zu können, wie wahrscheinlich zutreffend ihre Analysen insgesamt sind.
- Beim rationalen Argumentieren muss der Analyst bewusst auf gültige (logische) Schlussverfahren zurück-greifen und seine Argumentation auf Belegen aufbauen, die hinsichtlich ihrer Qualität bewertet wurden.
Ich hoffe, dass ich mit diesem Beitrag einige Denkanstöße für Ihre Arbeit geben konnte. Die gedankliche Auseinandersetzung mit den hier angerissenen Themen bedarf weiterer Diskussion im Kontext Strukturierter Analyse.